Vielleicht…

Geschrieben von am 3. Oktober 2007 | Abgelegt unter Allgemein

…ist ja doch nicht alles so schlecht, wie ich dachte. 😉

Ich fang vielleicht mal ganz von vorne an, damit ihr wisst, wovon ich überhaupt rede. Ich wohne in nem netten Haus mit drei Mitbewohnern im Londoner Stadtteil Stoke Newington im Borough of Hackney. Meine Mitbewohner sind echt toll, der älteste ist Martin, der Hausbesitzer (Brite und so um die 50 Jahre, Fotograf) und dann gibts noch Claudia, ne Deutsche, die seit 10 Jahren in London lebt (so um die 35 Jahre, Malerin und Kunstdozentin in Oxford) und Sandrine, ne knuffige kleine Französin, die seit nem halben Jahr da ist (so um die 25 Jahre, äh…ungefähr drölf verschiedene Jobs).
Mein Zimmer ist echt in Ordnung, zwar nicht groß, aber hat alles was ich brauch (Bett, Regal, Tisch, Schrank, Fernseher, CD-Spieler, W-Lan) und wir haben ne große Küche mit Tisch und genügend Platz. Ich hab endlich ein Gefrierfach, sogar ein eigenes, yeah! Das Bad ist auch total groß (im Vergleich zu meiner alten Wohnung ist eh alles groß…die würde einige Male hier ins Haus reinpassen…*hüstel*) und wir haben sogar nochmal ein extra Klo! Äh ja…ich bin vom Haus also sehr begeistert und meine Mitbewohner sind auch toll. Ich versteh mich mit allen drei total super und Claudia hat mich ja auch beim Heimweh so aufgepeppelt. 🙂 Sandrine war dann diejenige, die mir quasi die Angst vor der Umgebung genommen hat (die gute kommt und geht zu jeder Tages- und Nachtzeit)… Der Borough of Hackney wurde nämlich letztes Jahr zum „worst place to life in the UK“ gewählt. Dann hab ich schlaues Kind mir natürlich noch die „Hackney Gazette“ am Sonntag gekauft und nur von Mord, Totschlag und Raubüberfällen gelesen und zusätzlich liegt meine Schule noch in Leytonstone – dort wurde Anfang des Jahres ein Junge von nem anderen Jungen erstochen. Gangrivalität. Hoodies. Armut. Überlebenskampf. Ich bekomme hier ein ganz anderes Bild von London zu sehen, wie man es von den schönen Bildern oder als Tourist kennenlernt. In meinem Borough leben mehr Schwarze, Inder, Pakistanis, Moslems, etc. als Engländer. Und die meisten leben am Rande der Armutsgrenze oder sogar darunter. Da tötet man schonmal für 20 Pfund. Allerdings kommt es sehr darauf an, wo genau man im Borough of Hackney wohnt. Ich wohne in Stoke Newington, einem sehr jungen Viertel, dass gerade versucht, einen bessern Ruf zu bekommen. Es gibt hier viele nette Pubs, ein Haufen indische Schnellimbisse und tolle Restaurants und viele junge Familien ziehen her, weil die Mieten noch recht niedrig sind. Gleich um die Ecke liegt dann allerdings Clapton, eines der ärmsten Viertel von London…da geht man nach Anbruch der Dunkelheit besser nicht hin. Sehr viele Council Houses (so ne Art Sozialwohnungen), sehr viel Dreck und einfach extrem ungemütlich. Schon wenn man Richtung Clapton läuft, merkt man, wie sich das ganze Umfeld nach ein paar Straßenzügen ändert. (Das war übrigens auch an dem Tag, wo ich als einzige Weiße an der Bushaltestelle stand und mich so schrecklich unwohl gefühlt hab…da bin ich nichtsahnend in die falsche Richtung gelatscht und natürlich unwissend mitten nach Clapton rein.) Man sollte generell in Londons Außenbezirken wissen, wo man gerade ist und in was für ner Gegend man sich da aufhält. Ist halt ne Großstadt – und hier gibt’s nunmal viele Taschendiebe und schlimmeres. Friss oder du wirst gefressen. Aber wie meinte eine sehr liebe Person so schön: „Da ist es wahrscheinlicher, dass du von dem Nachtbus überfahren wirst, aus dem du gerade ausgestiegen bist, als dass dich auf dem Heimweg wer überfällt.“ Ich hab mittlerweile auch schon Leute kennengelernt, die wahnsinnig stolz darauf sind, hier zu leben – echte East Enders zu sein…
Was allerdings wirklich gegen Stoke Newington bzw. Hackney spricht: Es ist der einzige Bezirk, der in der Nahverkehrszone 2 und noch in der Inner City liegt, und nicht an das U-Bahnsystem angeschlossen ist. Die Busse sind ja so zuverlässig… *hüstel*

Gestern hatte ich meinen ersten Schultag. An ner Mädchenschule in Leytonstone. Eine normale Klasse an meiner Schule besteht aus 30% „typischen“ Briten und 30% Moslems mit Kopftüchern (bitte nur aus weißer Baumwolle, damit’s zur Schuluniform passt), 30% in traditionellem Shalwar Kameez (aber bitte im Design der Schule in nem bestimmten Stoff – Schuluniform eben), und ebenso viele Dunkelhäutige. (Ja, das macht insgesamt 120%, ich weiß – but you get the idea?!) Die Atmosphäre an meiner Schule ist aber total toll. Das Wort Rassismus existiert an der Schule quasi nicht. (Naja, die „anderen“ sind auch quasi in der Übermacht… *lol*) Ich hatte ja ein wenig befürchtet, dass vielleicht die Moslems zusammenhängen, die Weißen zusammenhängen, die Schwarzen und es extrem viel Cliquenbildung gibt. Aber an den ersten beiden Tagen konnte ich zwar Cliquen beobachten, aber ohne Religions-/Hautfarbe-/oder sonstige Grenzen. Die Schule achtet auch extrem darauf, dass genau so etwas nicht passiert. Natürlich gibt’s Reibereien, aber das sind ja auch alles pubertierende Gfrasters! 😀 Am Montag durfte mir Year 11 fragen stellen…ratet mal, was die erste Frage war: „Do you have a booooyfriiiieeend?“ Wer sich mal meine Schule ein wenig angucken mag und kurz Zeit hat, darf hier Video gucken. Bilder aus der Schule untermalt mit „Love has no colour“ vom Schulchor.

Ich denke, der Aufenthalt hier wird meinen Horizont in vielerlei Hinsicht erweitern. Ich sehe London jetzt schon mit anderen Augen, wie ich es vor meiner Ankunft gesehen habe. Und ich denke, dass sich dieses Bild bis zu meiner Abreise nochmal gewaltig verändern wird. Ich bekomme hier Eindrücke, die nicht unbedingt einfach zu verarbeiten sind. Gegensätze zwischen arm und reich, die ich in dieser Form nie erlebt habe und die oftmals nur einige Straßenzüge voneinander entfernt sind. Nachdem ich heute Abend auch zum ersten Mal im Dunkeln nach Hause gelaufen bin und mich niemand überfallen oder umgebracht hat (und ich auch nicht vom Nachtbus überrollt wurde…), habe ich beschlossen, mich auf das Abenteuer London einzulassen, mich auf Hackney einzulassen und meinen Horizont wahrscheinlich noch auf eine ganz andere Art zu erweitern als ich das geplant hatte. Ich bin mit anderen Erwartungen her gekommen…aber ich bin gewillt, meine Erwartungen dem anzupassen, was ich hier vorfinde.

Ich glaube, ich bin angekommen…

4 Kommentare zu “Vielleicht…”

  1. am 3. Oktober 2007 um 09:00 1.ash schrieb …

    schön zu hören, klingt alles total spannend. jetzt möchte ich nur noch fotos sehen!

  2. am 3. Oktober 2007 um 13:14 2.Nagelbombe schrieb …

    Freut mich, dass es dir gefällt. Wäre zwar absolut nichts für mich, aber ich muss da auch nicht sein *g*

    *knuddl*

  3. am 4. Oktober 2007 um 21:17 3.Benjamin schrieb …

    ICh freue mich, dass du da zu sein scheinst. So was blödes: Jetzt bist du weg und ich wohne nun fast bei dir. Bin in die Südstadt gezogen. Hab nen Bomben zimmer und fühle mich hier wohl. können ja mal skypen, wenn du meine authorisationsmitteilung annimmst. Viel Spaß in London und rock die scheiße derbe.

    benjamin

  4. am 5. Oktober 2007 um 03:10 4.nadja schrieb …

    klingt echt wahnsinnig interessant, muss dich sehr sehr bald besuchen!!!

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