Morgen in drei Wochen…

Geschrieben von am 12. Mai 2008 | Abgelegt unter Allgemein

…sitze ich genau in diesem Moment im Flieger nach Deutschland. Zum letzten Mal. Florian sitzt jetzt im Moment im Flieger. Ich habe ihn vor 2 1/2 Stunden in Tottenham Hale in den Stansted Express gesetzt. Mein erster und mein letzter Besuch. Drei wunderschöne Tage bei 25 Grad im Schatten. Der Sommer ist nach London gekommen. Hitze in der U-Bahn, Hitze in vollgestopften Bussen aber auch Eisessen auf der Straße oder Frappucinos am Regents Canal in Camden. Und morgen in drei Wochen ist das dann also alles vorbei. Ich kann’s gar nicht glauben. Ich werde sogar die Tube vermissen!

Samstagnacht ist mir aufgefallen, dass man hier in Crouch End die Sterne sehen kann. Nicht alle und nicht immer, aber meistens doch die ganz hellen. In der City sieht man keine Sterne. Die Stadt leuchtet so hell, dass man zwar den Nachthimmel sieht, aber ihn einfach als schwarze Decke ganz ganz weit oben wahrnimmt. Wenn man sich abends im Landeanflug auf London befindet, sieht man erst schwarz und dann auf einmal Lichter so weit das Auge reicht. Eine richtige Lichtglocke…einfach nur Helligkeit bis zum Horizont. Ich hielt das früher immer für ein Gerücht, dass man in Großstädten keine Sterne sehen kann und konnte mir das nie erklären. Aber bei so viel Licht können einzelne Sterne nicht mehr strahlen…ich freu mich darauf, wieder jeden Abend Sterne sehen zu können.

Was mir Samstagnacht auch auffiel: Ich bin tatsächlich abgestumpft. Ich höre die Großstadtsirenen jeden Tag und sehe auch Polizeiautos vorbeirauschen, aber ich schaue ihnen mittlerweile überhaupt nicht einmal mehr hinterher. Auch nicht, wenn es keine kleinen Polizeiautos, sondern mal wieder mehrere Mannschaftswagen hintereinander sind. Gefolgt von Notarzt und Krankenwagen. Mich schockt es auch nicht mehr wirklich, dass sich hier Jugendliche gegenseitig erschießen oder abstechen. Neulich wurde ein 15-jähriger mit ner Maschinenpistole durchlöchert, dass war dann schon irgendwie eine neue Dimension. Aber in Highgate drüben wurde letztes Wochenende ein Mann erstochen, hier in der Nähe an ner Brücke wurde einer erhängt gefunden (fast mein Weg zur Overground Haltestelle jeden Morgen, nur gehe ich unter der Brücke hindurch und nicht darüber) und irgendwo in Südlondon gestern oder vorgestern jemand erstochen. Ich habe den Artikel dazu in der Zeitung heute nicht einmal mehr richtig gelesen. Irgendwie beängstigend, sowas als „normal“ zu empfinden, oder? In was für einer Welt leben wir eigentlich? Thea kam vor drei Wochen morgens aus dem Haus und das Nachbarhaus war von der Polizei abgesperrt, weil dort ein Mord passiert war. Als sie abends nach Hause kam, war die ganze Straße abgesperrt, weil am anderen Ende der Straße ein Vergeltungsmord verübt wurde. Das hat sie mir relativ beiläufig erzählt, zwar mit der Bemerkung, dass sie schleunigst aus der Gegend wegziehen will, weil ihr das nun doch Angst macht und die netten Kids von nebenan anscheinend eher nicht so nett sind, aber es war trotzdem eher ein „things happen“ als ein „what the fuck is going on here?“.
Wenn ich mir da meine Beiträge von Oktober durchlese…und da habe ich nur halb so schlimm gebloggt, wie ich mich gefühlt habe, damit sich niemand von euch Sorgen macht.

Ich hatte vor einer Weile eine nette ICQ Unterhaltung mit jemandem, der meinte, dass Großstädte nix für ihn wären. Jemand, der meinte, dass er nicht damit klarkäme, ständig über die Schulter zu schauen auf dem Nachhauseweg. Straßenseiten zu wechseln um nicht an den Typen vorbeizulaufen, die an der Ecke rumhängen. Zu bestimmten Uhrzeiten nicht die Fußgängerbrücke über die Autobahn zur Arbeit zu nehmen, sondern 20 Minuten außenrum entlang der High Street zu laufen, weil schon mehrere Kolleginnen auf der Brücke überfallen oder „sexual assaulted“ wurden. Schon bei kleinen Alkoholmengen nachts ein Taxi zu nehmen, weil die Reaktionsfähigkeit und Wahrnehmung unter Alkoholeinfluss eine andere ist. Zu überprüfen ob noch genug Geld für Anrufe auf dem Handy ist, bevor man abends loszieht und immer zehn Notpfund im Geldbeutel zu haben, für den Fall das etwas unvorhergesehenes passiert.
Lauter Dinge eben, über die ich mir in Deutschland nie Gedanken gemacht habe. Wenn ich in Deutschland abends losziehe, dann „komm ich schon irgendwie Heim“. Ich hatte in Heidelberg auch nie Angst, wenn ich von der Nachtbushaltestelle nach Hause gelaufen bin. Hier fühle ich mich sehr oft unsicher. Bisher ist mir zum Glück noch nichts passiert und mir wird hoffentlich auch nichts passieren.
Aber all diese Dinge stressen mich nicht mehr, weil sie normal sind. Zu meinem Leben hier gehören. Eigentlich verrückt, oder?

Ich freu mich auf Deutschland, weil ich mich auf meine Familie und auf meine Freunde freue. Aber ich werde diese furchtbare Stadt vermissen. Die Gegensätzlichkeit: Wenn man in Liverpool Street aus der Tube steigt, ist man von Geschäftshochhäusern umgebe, dann kommt der moderne Spitalfieldsmarket und ein paar Straßen weiter Brick Lane. Banglatown. Schmuddelig, mit Graffiti und Streetart übersäht, jung und mulitkulti. Innerhalb von 15 Minuten Fußweg verändert sich das Straßenbild völlig.

Ich werde den Italiener in Crouch End vermissen und den Japaner, bei dem ich mittlerweile einen Sake umsonst bekomme. Ich werde Camden vermissen. Ich…

…hab schon erwähnt, dass ich hier nicht weg will, oder?
Und das, obwohl ich erlebt habe, wie diese Stadt abseits der Touristenpfade sein kann. Schülerinnen, die Drogenprobleme haben, Messer zur Verteidigung tragen und mit 15 Jahren schwanger sind. Am Rande mitkriegen, was London aus dir machen kann, wenn du in der falschen Ecke aufwächst und das falsche soziale Umfeld hast. Ein London, das viele Leute nie kennenlernen werden und viele Leute wohl auch nicht kennenlernen möchten. Aber ich bin unendlich froh darüber, dass ich London kennenlernen durfte – auch wenn wir gerade erst anfangen uns richtig gut zu verstehen.
Um London richtig kennenzulernen, müsste ich wahrscheinlich noch Jahre hier wohnen, aber ich bin froh, dass ich hier gearbeitet habe bzw. in Leytonstone gearbeitet habe und nicht nur ein Auslandssemster hier verbracht habe. Denn selbst die Studenten leben hier in London meist nur in ihrem behüteten Umfeld.

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Goodbye Big Smog! I’ll be back!

Ein Kommentar zu “Morgen in drei Wochen…”

  1. am 13. Mai 2008 um 22:36 1.ash schrieb …

    wollte nur sagen: toller Eintrag.

    und superschönes Foto.

    Danke und gute Nacht :).

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